Ich bin schon lange vor meinem Wecker wach. Ich fühle mich unruhig, habe Kopfschmerzen, keine Energie. Ich will einfach nicht aufstehen – aber ich MUSS.
Es ist noch keine 11 Uhr. Ich sitze im Büro und bin zerstreut, unfähig für alles, missgelaunt. Ich frage mich, was ich überhaupt hier mache. Bekomme doch eh nichts auf die Reihe. Nichts klappt, nichts funktioniert.
Noch kann ich mich gegen den Impuls wehren, einen oder zwei Schokoriegel aus der Box zu essen. Auf die aufkommenden Emotionen lasse ich mich aber jetzt schon ein. Ich gehe voll in dieses „Moep“Gefühl, bin trotzig und motzig. Eigentlich finde ich das ja total doof und ich weiß ja auch, dass es das nur schlimmer macht. Vor allem diese Selbstverurteilung … weil ich wieder mal nicht funktioniere.
Auf dem Nachhauseweg gehe ich schnell noch einkaufen. Ein Puddingteilchen wäre jetzt was und die 500g Gebäckmischung. Die muss es auf jeden Fall sein. Ich öffne sie noch während der Heimfahrt. Zu Hause angekommen, ist sie fast halb leer. Ich verschließe sie und lege sie in den Kühlschrank. Ein bisschen gekühlt schmecken die Kekse am Besten.
Hab´ ja noch das Puddingteilchen. Eine Hälfte kommt auf den Teller, die andere bleibt in der Tüte. Heute schaffe ich es auf jeden Fall, nicht alles aufzuessen. Ganz bestimmt!
Ich merke schon jetzt, dass ich total voll bin. Egal, das halbe Teilchen geht noch rein. Ich liege auf der Couch und schlafe ein. Als ich aufwache, ist es wieder da. Das Gefühl, ich muss was Essen. Mein Blutzucker ist im Keller… Also esse ich erst noch die zweite Hälfte Teilchen und weil es dann ja eh schon egal ist, auch noch den Rest der Kekspackung. Mir ist kotzeübel, ich habe einen richtigen Klumpen im Bauch und sofort geht mein Bullshit-Radio im Kopf an: Prima, wieder nicht unter Kontrolle gehabt! Du hast es mal wieder nicht geschafft! Wie kann es sein, dass sich von heute auf morgen meine Energie um 180 Grad gedreht hat? Was zur Hölle stimmt denn nicht mit mir?! Liebe Industrie: Ihr könnt euch getrost wiederverschließbare Verpackungen sparen!!!
Natürlich wurde der Tag nicht besser. Ich habe ihn nur noch liegend und schlafend verbracht und den nächsten Tag geplant: Vor dem Arbeiten gehst du auf jeden Fall laufen und später noch trainieren. So hast du HEUTE einigermaßen kompensiert.
Es war immer das gleiche. In den meisten Fällen war ich am nächsten Tag gar nicht in der Lage Sport zu machen. Weil mir noch schlecht war und der ganze Körper weh getan hat. Gerade Zucker hat unheimliche Auswirkungen auf den Körper. Zumindest meiner reagiert heftig auf übermäßigen Zuckerkonsum.
Ich habe lange Zeit gebraucht, bis ich überhaupt verstanden habe, was mit mir passiert, wenn ich die Kontrolle verliere und was die Auslöser sind. Bis vor ca. 5 Jahren habe ich das genaue Gegenteil gelebt. Bloß nicht zu viel essen, manchmal nur einen Apfel am Tag. Zucker und Kekse? Brauchte ich nicht. Sehr einseitige Ernährung, zu viel Bewegung – auch nicht gesund. Als sich mein Essverhalten dann geändert hat (ich hab nämlich an meinem Perfektionismus gearbeitet und den endlich abgelegt), dachte ich anfangs: ich hole einfach ein bisschen nach… Falsch gedacht, ich habe einfach nur ein anderes Kompensationsmittel gefunden.
Heute weiß ich, sowohl der Perfektionismus, der Drang immer und überall zu funktionieren, als auch mein Essverhalten haben mich einfach abgehalten, zu mir und meinem wahren Kern, meinen Gefühlen, Prägungen und Verletzungen zu finden, mich wirklich zu fühlen und mein Leben lebendig zu leben.
Es war kein leichter Weg und ich war oft an dem Punkt aufzugeben. Der Mut hinzuschauen, loszulassen, Kontrolle abzugeben und jedes Gefühl zu leben, haben sich gelohnt.
Heute ist mein Motto: Just do your best – und dann relax! Alles wird sich zu meinem höchsten Wohl entfalten.
Bildrechte Franziska Raschke