Es war einmal ein düsteres Herrenhaus, das einsam und verlassen auf einer Anhöhe stand. Jeder in dem kleinen Dorf namens Wallaby, das dem Herrenhaus zu Füßen lag, kannte die Gruselgeschichte um das Herrenhaus. Für gewöhnlich würde diese allerdings nicht an einem Sommerabend erzählt werden.
Doch diesmal war etwas anders: Drei Kinder und ein Hund waren zu Besuch auf der Strawberry Farm, um dort für eine Woche ihre Ferien zu genießen.
Nun saßen diese Kinder namens Luke, Amy und Kim mit ihrem Hund Chrissi am Küchentisch der Farm und schaufelten hungrig Marmeladenbrote und Limonade in sich hinein.
Nachdem Kim einen Bissen heruntergeschluckt hatte, fragte sie neugierig: „Wohnt in dem alten Herrenhaus auf dem Hügel noch jemand?“ „Nein, mein Kind, die Villa Pearl steht schon seit vielen Jahrhunderten verlassen da“, antwortete Mrs. Lee.
„Gibt es eine Gruselgeschichte darüber?“, fragte Luke weiter, „Ich meine, es gibt zu jedem alten Gemäuer eine Gruselgeschichte!“
„Ja, die gibt es“, meinte Mrs. Lee, „sehr viele sogar. Aber die Geschichte, die alle davon abhält, dort hinein zu gehen, ist folgende: Die letzten Bewohner der Villa Pearl waren Lady und Lord Mitchell. Doch eines Nachts, als die Zwillinge der Lady geboren werden sollten, schlug ein Blitz in die Villa ein. Durch diesen Blitz verstarb sie mitsamt ihrer ungeborenen Kinder. Der Lord folgte ihr bereits drei Jahre später, weil er seine Trauer nicht mehr aushalten konnte. Das Volk hatte beide sehr gemocht, sie waren großzügig und gütig gewesen. Der damalige Köng Alexander XVII konnte keinen anderen Adel finden, der in die Villa Pearl einziehen wollte und so blieb sie bis heute leer stehen. Manchmal hört man noch das Geklapper der Gebeine und das Jammern und Heulen der Geister der Lady und ihrer ungeborenen Kinder. Ab und zu kann man sogar die Schatten der Geister sehen, die an den Fenstern entlang huschen. Also haltet euch lieber fern!“
Amy antwortete ängstlich: „Diese Geschichte klingt furchtbar! Ich werde da ganz sicher nicht hingehen!“ Luke und Kim warfen sich nur einen Seitenblick zu und grinsten in sich hinein.
Während Mrs. Lee ihren Mann holen ging, flüsterte Kim Amy etwas ins Ohr. Die flüsterte mit sichtlich großen Zweifeln etwas zurück, zuckte dann aber mit den Schultern. Als Mrs. Lee mit Mr. Lee zurück kam, sprach sie also mit ihrer mädchenhaften Unschuldsmiene: „Guten Tag Mr. Lee! Wir haben von der Villa Pearl gehört und interessieren uns sehr dafür!“ „Hallo, Kinder! Ja, diese Geschichte ist eine besonders interessante, wenn auch gruselige Geschichte. Vielleicht solltet ihr mal eine Expedition dahin machen!“, schlug Mr. Lee vor. „Aber Peter! Setz den Kinder doch nicht solche Flausen in den Kopf!“, schimpfte Mrs. Lee. Bei ihrer verzweifelten Miene sprang schnell Luke in die Rolle des Ältesten und Vernünftigsten: „Mrs. Lee, Sie brauchen sich wirklich keine Sorgen zu machen! Wenn wir Ferien haben, besichtigen wir oft alte Gemäuer. Wir bleiben nur für eine Nacht und nehmen unsere Fahrräder mit, dann können wir schneller hierher zurückfahren. Sie können mir wirklich vertrauen. Und wir haben die Villa Pearl gerade in der Schule als Thema und müssen einen Vortrag darüber halten“, sagte er und beschwichtigte Mrs. Lee. Kim staunte mal wieder darüber, wie gut ihr Bruder Erwachsene überzeugen konnte. „Also gut“, antwortete Mrs. Lee, „ihr packt eure Sachen und ich mache euch einen Picknickkorb zurecht.“ „Danke Mrs. Lee!“, sagte Amy als Einzige, während die anderen schon in ihre Zimmer unterwegs waren. Aufgeregt diskutierten Luke und Kim darüber, was sie alles machen wollten. Amy dachte als Einzige daran, ihre Sachen zu packen. Der Endeffekt war, dass sie ihren älteren Geschwistern helfen musste. Als sie dann endlich fertig waren, fuhren sie los. Chrissi lief schwanzwedelnd und freudig voraus. Dahinter folgten nebeneinander Luke und Kim und als letztes Amy, die nicht hinterher kam. Irgendwann schrie Amy einfach „STOPP!“. Vor Schreck bremste Luke so heftig, dass er mit seinem Fahrrad hinfiel. Kim prustete laut los, denn es war mal wieder typisch für den Ältesten, sich Sorgen um die Jüngste zu machen. „AMY!!!! Warum erschreckst du mich immer wieder so, dass ich entweder irgendetwas fallen lasse oder hinfliege??“, rief dieser halb am Lachen und halb am Schreien. „Ich?! Ich kann doch nichts dafür, wenn ihr so schnell fahrt, dass ich nicht hinterher komme!“, erwiderte diese entgeistert.
Also stiegen sie alle wieder auf ihre Fahrräder und fuhren diesmal ein wenig langsamer. Es war schon fast dunkel, als sie bei der Villa Pearl ankamen. „Irgendwie sieht die Villa fast schon traurig aus. Aber irgendwie auch friedlich“, meinte Amy, die immer die Stimmungen und Gefühle von alten Gemäuern zu fühlen meinte.
„Ach du mit deinen Gefühlen von alten Gebäuden“, meinte Kim leichthin. „Kommt ihr jetzt endlich?“, rief Luke aus dem Flur. Also schoben die beiden ihre Fahrräder zu seinem in den Innenhof der Villa. Zusammen gingen sie einmal durch alle Zimmer, mit Kerzen in der Hand, weil es mittlerweile schon dunkel geworden war. „Irgendwie ist hier etwas merkwürdig“, meinte Luke. „Ich weiß was es ist! Überall sind Pfotenabdrücke und Tierkot“, führte Amy den Gedankengang zu Ende, die für ihre acht Jahre schon erstaunlich clever war. Auch Chrissi schnüffelte interessiert herum. „Komm, lass uns das morgen weiter überprüfen. Ich bin müde und es ist schon dunkel“, antwortete Kim gähnend. Also machten sie sich auf den Weg zurück ins Wohnzimmer, welches noch am saubersten war und legten sich schlafen.
Die beiden Ältesten und Chrissi waren noch fest am Schlafen, und auch Amy war irgendwann eingeschlafen, als diese am frühen Morgen ein merkwürdiges Geräusch hörte. Klappern, wie von Gebeinen und ein Heulen und Wimmern! Und dann sah sie auch noch einen Schatten am anderen Ende des Raumes vorbeihuschen! „Ahhhhh!“, schrie Amy los und Chrissi fing sofort laut an zu bellen. „Was ist denn jetzt schon wieder?“, fragte Luke verschlafen. „Hörst du es nicht? Dieses Klappern von Gebeinen, wie Mrs. Lee gesagt hat! Und das Wimmern der Geister!“, flüsterte sie ängstlich.
„Ja, ich höre es. Jetzt ist die ideale Gelegenheit, dem auf den Grund zu gehen!“, meinte Kim müde. Aus diesem Grund zogen die vier los. Zuerst traten sie vorsichtig in den Flur. Vor lauter Schreck stolperte Amy und fiel in die Arme ihres Bruders. „Musst du jetzt auch noch in Ohnmacht fallen, Schwesterchen?“, fragte dieser genervt. „Nein, aber, schau mal um die Ecke! Das Rätsel um die Schatten ist gelöst!“, flüsterte Amy bedächtig. Kim und Luke lugten vorsichtig um die Ecke. Kim kicherte leise los. Denn ihnen bot sich ein zu goldiges Bild: Auf den Schränken und Kommoden kletterten Dachse und Waschbären herum und beschnupperten sich neugierig. Auf dem dicken Teppich tollten zwei Bärenkinder herum. „Wo Bärenkinder sind, ist die Mutter auch nicht weit!“, murmelte Luke beeindruckt. Und schon entdeckten sie diese: Sie hatte bis jetzt versteckt hinter einem Sofa gesessen und war nun auf dem Weg zu ihren Jungen. „Besser, wir machen uns schnell auf den Weg nach draußen!“, gab er den anderen zu verstehen. Leise nahmen sie ihre Rucksäcke und schlichen in den Innenhof, um ihre Fahrräder zu holen. „Und hier haben wir das nächste“, prustete Kim leise los, „das gruselige Jammern und Wimmern ist einfach der Wind, der in den Ecken des Innenhofs hängen bleibt!“ Erleichtert seufzte Amy und stieg auf ihr Fahrrad. Sie nahmen diesmal die Hintertür. Doch auf einmal fiel Luke etwas ein: „Oh nein, wir haben den Picknickkorb von Mrs. Lee drinnen vergessen!“ Und bevor die anderen etwas sagen konnten, flitzte er noch einmal schnell ins Wohnzimmer. Als er zurück kam, konnte auch er nicht mehr an sich halten und sobald sie die Villa Pearl verlassen hatten, fing er lauthals an zu lachen. „Das Klappern der Gebeine“, er holte schnappatmig Luft, „sind bloß die alten Holztüren, die ständig vom Wind auf und zu gehen!“ Laut lachend machten sie sich auf den Rückweg und auch Chrissi schien froh zu sein, die Villa endlich verlassen zu haben.
Als sie nach ein paar Stunden wieder auf der Strawberry Farm angekommen waren, war Mrs. Lee heilfroh, die Kinder unversehrt wiederzuhaben. Während die Kinder sich über die Reste des Picknickkorbs hermachten, erzählten sie Mrs. Lee von ihren Entdeckungen. „Na dann sollte die Villa Pearl zum Tierschutzgebiet erklärt werden“, meinte diese und rief sogleich den Bürgermeister an. Und zur Krönung des Tages hatte sie auch noch Erdbeerkuchen gebacken, denn die Strawberry Farm hieß ja nicht um sonst so.
Laura Marie Müller, Kl. 8b, Gymnasium im Kannenbäckerland